Hernie


Sie sollen mich in Ruhe lassen, sagte Thea zu den Staffs. Denn wenn ich krank oder verletzt bin, dann schlägt meine autistische Veranlagung voll durch. Insbesondere Fragen nach meinem Zustand, gute Ratschläge und Hilfsangebote nerven mich dann nur noch mehr. Selbst Thea fährt dann ihr Bedürfnis nach Kontrolle auf ein (nach ihren Massstäben) absolutes Minimum herunter.


Was mich plagte war medizinisch, so gut das in Bali eben möglich ist, von zwei Aerzten sauber abgeklärt. Beide zogen sich einen frischen Latexhandschuh an und schoben und drückten ihre Finger an und in alle möglichen und unmöglichen Stellen im unteren Teil des Unterleibs. Dann sagten sie „Hernie“ und fertigten zur Erklärung dieses Begriffes eine Zeichnung an, die ganz entfernt an den unteren Teil des Davids von Michelangelo erinnerte (als er noch jung und ohne Leistenbruch war). Soweit ich verstand war ein normalerweise verschlossener Kanal in der Leistengegend soweit geöffnet, dass umliegende Innereien sich in diesem Kanal verirren konnten, unter anderem auch recht empfindliche Organe der männlichen Spezies.


Das war vor zwei Monaten und eigentlich wollten wir die Behandlung im Anschluss an die Skiferien in der Schweiz durchführen lassen. Nicht dass ich den Schweizer Aerzten massiv mehr vertrauen würde, aber immerhin kann ich mich mit ihnen in Mundart unterhalten. Aber jetzt schien das Problem in eine neue Phase getreten zu sein: ich konnte nur noch stehen oder liegen.


Nach drei Tagen war ich reif und liess Dr. Handras kommen. Jaja, Hernie, sagte er. Und es würde nicht besser, eher laufend schlechter. Und er empfahl eine Kapazität von einem Chirurgen, ein Professor Dr. Buddha, der sogar ein eigenes Spital in Denpasar besässe und bei dem Dr. Handras Vorlesungen besucht hatte.


Am Montag Abend sassen Thea und ich in der Wartehalle des Spitals, das dem Professor gehört. Professor Buddha schwebte einer gütigen Erscheinung gleich herein und war sich der Huldigung der Wartenden durchaus bewusst. Auch er zog sich Latexhandschuhe an und auch er sagte „Hernie“ und versuchte sich als Michelangelo. Wir einigten uns die Operation „Hernie“ raschmöglichst zu starten.


Am nächsten Tag wurde ich als Erstes in den umfassenden Tarifkataolg des Spitals eingeführt. Und um es vorweg zu nehmen: die Abrechnung, die jeden Tupfer, jede Handreichung, jede Mahlzeitkomponente umfasste war vorbildlich vollständig und unbalinesisch exakt. Und allein diese Abrechnung rechtfertigte schon den unverschämt hohen Gesamtpreis, der problemlos mit dem Preis in einem Schweizer Spital (halbprivat) mithalten konnte.


Und dann wurde ich als zweites an einen Tropf gehängt. Warum, wissen die Götter, respektive die Schlussabrechnung. Und, immer am Tropf, wurde ich durchleuchtet und auf jede denkbare Art und Weise vermessen. Ich sei kerngesund, meinte der Internist, allenfalls eine leicht belegte Luftröhre, wie sie typischerweise bei starken Rauchern auftrete. Das sei ja wunderbar, dann könne ich wieder nach Hause gehen. Höflich, wie die Balinesen nun mal sind, rang er sich ein Lächeln ab.


Das VIP-Zimmer wurde ausschliesslich im Preis einem 4 Sternhotel gerecht. Ich konnte Thea nur mit Mühe davon abhalten erstmals das Bad sauber zu machen. Ich bin da nicht so heikel aber in dieses Bad ging ich jeweils nur wenn ich mal wirklich müssen musste. Das Zimmer und der zugehörige Living-Room hatte den Charme eines Militärspitals aus den 50er Jahren. Nur die speckigen, in altrosa gehaltenen Satin-Vorhänge, die im Licht der nackten Sparlampe einen violetten Stich erhielten, versprühten einen Hauch von balinesischem VIP-Luxus. Und später, nach der Operation, bemerkte ich, dass die Matratze Gift für meinen Rücken war, das hatte aber den Vorteil, dass man von den sonstigen Schmerzen, die nach einer Operation üblich sind, abgelenkt wurde.


ALLES...., sagte die Schwester, die mit völlig unbalinesischem, hämischem Grinsen und einem hoch erhobenen Einwegrasierer das Zimmer betrat. Und ob ich es selbst tun wolle; ich wollte. Das nächste Mal werde ich bestimmt den Barttrimmer mitnehmen. Und nachdem die Infusionsnadel nach dem dritten Mal am richtigen Ort sass wurde ich in den Operations-Saal gerollt.


Als Chirurg in seinem Arbeitstenue machte Professor Buddha einen bodenständigeren, professionelleren Eindruck. Er ging alle Akten nochmals durch und ich hatte den Eindruck, dass er sich darauf freute wieder einmal das Skalpell zu führen. Er besprach mit mir was er zu tun gedenke und dass er in meinem Fall den Einsatz eines Kunstoff-Netzes empfehle, das allerdings 75 Euro extra kosten würde und ob das ein Problem für mich sei. Sei es nicht beruhigte ich ihn. Und so denke und hoffe ich, dass er an den richtigen Stellen geschnitten und vor dem fachgerechten Zunähen alle Innereien an ihre ordnungsgemässe Stelle zurechtgerückt hat.


Und natürlich auch in der etwas zögerlichen Hoffnung, dass alles soweit steril zu und her gegangen ist, dass somit das vorsorglich gespritzte und geschluckte Breitbandantibiotikum den Käfern gewachsen ist. Denn die Bakterien scheinen in diesem Spital geradezu liebevoll gezüchtet zu werden. Jedenfalls ist dazu eigens eine Equippe angestellt, die täglich einen feuchten, grau- grün- braunen Bodenmop solange über die weissen Kacheln schmiert, bis aller Schmutz gleichmässig verteilt oder zumindestens in den Bodenfugen abgesetzt ist. Wasser wird äusserst sparsam eingesetzt ich ich schätze so ca 1 Liter auf 150 m2. Aber, und das muss gerechtigkeitshalber auch gesagt sein, nach dieser Prozedur riecht es ausgezeichnet nach frischen Zitrusfürchten.


So als kleine Episode nebenbei: die Narkose bestand aus einer Spritze in die Wirbelsäule. Dabei bleibt man einigermassen halbwach. Auf jeden Fall kriegt man ansatzweise mit, wie sich eine Querschnittlähmung anfühlt. Man weiss wo die Gliedmassen sein müssten, die man weder spürt geschweige bewegen kann. Und wenn man mit der Hand die eigene Hüfte betastet, dann fühlt sich das in etwa so an, als ob nebst der eigene Hüfte auch noch ein entsprechendes aber fremdes, leicht unterkühltes Stück vorhanden ist. Die Berührung selbst nimmt man natürlich nur in den Fingern wahr aber irgend etwas im Hirn ist davon überzeugt, dass das die eigene Hüfte ist. Und irgendwas im Hirn amüsiert sich über den Widerspruch.


Und dann kam ich unter die liebevoll gemeinte Bevormundung der Schwestern. Sie bestimmten was gut für mich sei und hatten für meine Gegenvorschläge nur ein überraschtes, ungläubiges, kurzes, gequältes Lachen übrig. Aber nachdem ich die Schwester vor die Wahl stellte, dass entweder sie oder sonst eben ich selbst den Tropf entfernen werde und nachdem Thea in der Spitalapotheke Ponstan besorgte, hatte ich meine Autonomie einigermassen wieder erlangt. Und meine regelmässigen Ausflüge hinters Haus, wo ich mir eine Zigarette gönnte, übersahen die Spitalfeldweibel geflissentlich oder betrachteten es als postoperative Bewegungstherapie, mir soll's egal sein. Jedenfalls hatte ich den Eindruck, dass die Pflegerinnen froh waren mich, den Störefried, endlich entlassen zu können.


Und später im Hotel lernte ich das Husten, das Niessen und das Lachen ob der Witze von Thea zu verkneifen. Und das anfängliche halbstündliche Wasserlassen machte mich zum wahren Artisten, der trotz Operationsnarbe im Unterleib ein flaches Bett mühelos besteigen und wieder verlassen konnte.


Inzwischen bin ich wieder Zuhause im Norden. Und inzwischen lege ich mich ins Bett statt es zu besteigen. Morgen kommt Dr. Handras und wird die Fäden ziehen.


Und noch eins: ich bin wirklich froh, endlich wieder im Norden von Bali zu sein. Der Süden ist mir zu schwül und entfaltet eine unbalinesische Hektik mit den vielen australischen und japanischen Touristen und ihren etwas derben Umgangsformen, und den vielen Balinesen, die ihr umfassendes, oft geschlechstsspezifische Dienstleistungs­angebot, eher weniger diskret sowohl an den Mann als auch an die Frau bringen wollen.